Gefährlicher Medienkonsum
Smartphones, Streaming, Social Media: Die digitale Welt dominiert den Alltag von Europas Kindern und Jugendlichen. Vier von fünf besitzen ein eigenes Smartphone, der Bildschirmkonsum liegt bei bis zu sieben Stunden täglich. Diese Zahlen unterstreichen, was auch die deutsche JIM-Studie seit 25 Jahren regelmäßig zeigt: Der Medienkonsum nimmt stetig zu und bringt nicht nur Vorteile, sondern auch erhebliche Gefahren mit sich. Die Risiken reichen von Suchtverhalten über Cybermobbing und -grooming bis hin zu völligem Interessenverlust an einem lebendigen Lebensalltag und Rückzug in die eigenen vier Wände.
Aber wie viel ist zu viel? Problematisch wird es, wenn digitale Inhalte andere Aktivitäten verdrängen, etwa Schule, Hobbys oder Zeit mit der Familie. Besonders gravierend ist die Nutzung in der Nacht, denn sie führt zu Schlafstörungen und einer gestörten Tagesstruktur. "Gerade Kinder und Jugendliche mit einer Tag-Nacht-Rhythmusstörung entwickeln ausgeprägte Ängste, depressive Symptome und zeigen Erschöpfung. Insbesondere die ungünstige Interaktion zwischen hohem Medienkonsum und ADHS ist besorgniserregend. Das Abfallen schulischer Leistungen geht bis zum völligen Ausstieg aus dem Schulbesuch", sagt Adrian Kamper, Leiter der Kinder- und Jugendpsychiatrie am Klinikum Wels-Grieskirchen.
"Viele flüchten sich dann noch mehr in die digitale Welt. Wenn einmal Alltagsaufgaben wie Aufstehen, Frühstücken und Schulbesuch nicht mehr gelingen, deutet dies in Richtung einer sich entwickelnden Verhaltenssucht."
Prim. Dr. Adrian Kamper, Leiter der Abteilung für Kinder‐ und Jugendpsychiatrie und Psychotherapeutische Medizin und des Departments für Psychosomatik für Säuglinge, Kinder und Jugendliche, Klinikum Wels‐Grieskirchen
Das Expertenteam rund um den Mediziner befasst sich seit mehreren Jahren aufmerksam mit den Themen des hohen Medienkonsums und problematischer Inhalte. "Wenn wir dies feststellen – und das ist zunehmend häufiger der Fall –, dann bieten wir Kindern und ihren Eltern Informationen und Psychoedukation. Unsere Tagesstruktur und die multiprofessionelle Therapie helfen, wieder andere Inhalte im Leben in den Vordergrund zu stellen. Kommen in Gesprächen sensible Inhalte zu Tage, werden diese entsprechend vertraulich behandelt."
Wenn die Online-Welt das Leben bestimmt
Zu den ersten Warnsignalen zählen steigende Online-Spielzeiten, das Vernachlässigen von Alltagspflichten oder ein zunehmender Rückzug. "Eltern sollten wissen, welche Plattformen und Spiele ihre Kinder nutzen und wie oft", so Kamper, "Aber auch, wenn entsprechende Rechnungen – zum Beispiel von In-Game-Käufen – steigen oder einschlägige Datenquellen genutzt werden, sind das deutliche Signale." Kritisch wird es, wenn Hygiene und Schulbesuch leiden oder eine Lehrstelle aufgegeben wird. Auch die forcierte Nutzung von KI durch die Betreiber digitaler Medien sei besorgniserregend, so Kamper. Plattformen nutzen immer bessere Algorithmen, um Inhalte maßzuschneidern und so junge User in der Online-Welt zu halten. "Die Strategie ist simpel, aber effektiv: Jugendliche sollen glauben, sie könnten mir mehr Zeit, mittels Bonusmaterial oder mit höherem Einsatz das nächste Ziel oder Level erreichen. So bleiben sie im 'Flow', der sie dann sprichwörtlich festhält", erklärt Kamper.
Hilfe holen, bevor es zu spät ist
Elter beklagen immer öfter das Problem des zu hohen Medienkonsums ihrer Kinder. Die Tragweite scheine allerdings unterschätzt zu werden, so Kamper. Wichtig sei, sich rechtzeitig zu informieren und Unterstützung anzufordern. Im Internet steht umfassende Aufklärung zur Verfügung – in Österreich etwa über saferinternet.at oder über die deutsche Seite klicksafe.de. "Erste Ansprechpartner können Erziehungsberatungsstellen, niedergelassene Kinderärzte oder Kinder- und Jugendpsychiater sein. Eine Ambulanz für Spielsucht der pro mente OÖ befindet sich am Neuromed Campus in Linz. An unserer Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie und am Department für Psychosomatik für Säuglinge, Kinder und Jugendliche am Klinikum Wels-Grieskirchen widmen wir uns diesem brisanten Thema, sofern sich im stationären Aufenthalt entsprechende Hinweise ergeben. Dann gilt es, Beziehung und Vertrauen aufzubauen, die Ursachen des Verhaltens zu verstehen und ein Behandlungsprojekt zu etablieren."
Eltern als Vorbilder
Experten unterstreichen die Rolle der Eltern im Erlernen einer gesunder Mediennutzung. "Kinder brauchen klare Regeln und vor allem die Vorbildfunktion der Eltern. Erwachsene müssen einen inhaltlich unproblematischen und zeitlich geregelten Umgang mit digitalen Median bewusst vorleben", so Kamper. Notwendig sei, bereits früh anzusetzen. "Kein Bildschirm für Kinder unter drei Jahren, maximal 30 Minuten täglich bis zum sechsten Lebensjahr und gestaffelte Zeitlimits danach." Der Schutz vor unkontrollierter Nutzung sei entscheidend. "Für Spiele mit Gewaltinhalten, pornografische Inhalte und auch für Social-Media-Plattformen gelten klare Altersvorgaben – theoretisch. So ist zum Beispiel für die Nutzung von WhatsApp ein Mindestalter von 16 Jahren festgesetzt, welches sich an der europäischen Datenschutz-Grundverordnung orientiert. Von den Betreibern wird die Einhaltung nicht effektiv kontrolliert", mach der Experte klar. "Die Verantwortung für Kinder bleibt hier bei den Eltern", betont Kamper. Wichtig sei zu realisieren und zu vermitteln: "Nichts, rein gar nichts, was im Netz gepostet wird, bleibt privat, egal ob Screenshot oder Foto oder Video. Unüberlegte Postings können rasch eine ungeahnte kriminologische Dynamik und psychische Not für Kinder und Jugendliche entwickeln."
Nützliche Informationen, Tipps und Tools für einen sicheren Medienumgang finden Familien auf Webseiten wie:
- onlinesicherheit.at
- saferinternet.at
- klichsafe.de
Buchtipp: "Wir verlieren unsere Kinder! Gewalt Missbrauch, Rassismus – Der verstörende Alltag im Klassen-Chat" von Silke Müller 2023. DROEMER Verlag. Die Schuldirektorin und Digitalbotschafterin von Niedersachsen beschreibt in ihrem Buch Auswirkungen zu hohen Internet- und Medienkonsums und gibt Tipps für den Alltag.
Stand: November 2024